Pharmazie


Schering (2)

PROGYNON
 

   Der aus einer Hohenemser jüdischen Arztfamilie stammende Dr. Eugen STEINACH (1861-1944) war in den 1920er Jahren der Erfinder des ersten funktionierenden Hormonpräparates. Ab 1923 arbeitete er mit der deutschen Pharmafirma Schering zusammen, die im Bereich der Hormonpräparate zu den führenden Konzernen zählte. 1928 kam der Ovarienextrakt PROGYNON in Form von Dragées auf den Markt - das in den Laboratorien von Schering entwickelte Präparat wurde bis vor wenigen Jahren hergestellt und war gegen Wechseljahrbeschwerden, vor allem aber bei Geschlechtskorrekturen in Verwendung. 

 

Cave Verwechslung: auch ein kristallin reines Oestrogen sollte den Namen PROGYNON tragen! Anfang September 1929 kristallisierte Edward A. DOISY "das weibliche Hormon". Fieberhaft machte sich in Deutschland Adolf BUTENANDT, unterstützt von seiner späteren Ehefrau Erika v. Ziegner, daran, seinerseits das Hormon kristallin rein darzustellen und dessen Summenformel zu erstellen. "PROGYNON" sollte der neue Stoff heissen – genau wie das Organpräparat Scherings (Helga Satzinger, Adolf Butenandt, Hormone und Geschlecht, in: Wolfgang Schieder, Achim Trunk, Adolf Butenandt und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Wallsteinverlag 2004 S. 102).

 

Wo kamen die Oestrogene im Schering'schen PROGYNON her?

   "At first the hormones to make up the pills were expensive to purchase. In order to make the pills more affordable, Schering extracted the hormones from the urine of pregnant women" (SCIENCE MUSEUM London). Ursprünglich enthielt Progynon also ein Follikelhormon aus weiblichem Urin.

 

Als nicht genug Urin zur Verfügung stand, behalf man sich mit Rinderplazenten:

"… ist von einer ausgiebigen Hormonaltherapie in der Darreichung erprobt wirksamer Ovarialpräparate zu erwarten. In erster Linie ist hier das besonders von J. NOVAK empfohlene Progynon zu nennen, ein von STEINACH und seinen Mitarbeitern angegebenes, aus Rinderplacenta gewonnenes Hormonpräparat, das nach Mäuseeinheiten biologisch austitriert ist. Eine Dragée Progynon enthält 250 Mäuseeinheiten" (Conrad Stein, Die Medikamentöse und Allgemeine Behandlung der Ohrenkrankheiten, Springerverlag 1931  S.36).

Auch Alfred Goldschneider (Therapie Innerer Krankheiten, Springerverlag 1931 S. 361) schreibt, dass Progynon aus Rinderplacenta hergestellt wurde.

 

Bis Anfang der 30er Jahre wurde das Oestrogen erst aus Plazentagewebe, dann aus Urin gewonnen:

"Entre 1925 et 1935, Schering remplaça les extraits de tissus par des spécialités supposées ne contenir que les stéroïdes tenus pour caractéristiques des sécrétions des ovaires, du corps jaune et des testicules. Les marques déposées Progynon, Proluton, Proviron et Testoviron devinrent ainsi respectivement synonymes d’estrogènes, de progestérone, d’androstérone et de testostérone. Les sources d’approvisionnement changèrent aussi. Même si la manipulation et le découpage des ovaires de truies — une opération délicate nécessitant un doigté typiquement féminin — persistèrent jusque dans l’après-guerre, une bonne partie de ces produits étaient désormais préparés par le traitement chimique de quantités massives d’urine de jument et d’urine humaine" (Jean-Paul Gaudillière, La fabrique moléculaire du genre : hormones sexuelles, industrie et médecine avant la pilule, L'Harmattan Nr.34 1/2003).

 

1928 konnten Selmar Aschheim und Bernhard Zondek im Urin schwangerer Frauen und Tiere hohe Konzentrationen an Oestrogenen nachweisen, worauf die Industrie auf diese Quellen zurückgriff, und die kostspieligen Plazenten allmählich aufgab. So auch die Fa. Schering, deren Chemiker Adolf BUTENANDT die Reindarstellung von Östron im Prinzip 1929 realisierte, es bis zur Massenherstellung aber bis knapp 1933 dauerte:

1932 gelang die Umwandlung von Estron in Östradiol durch Hydrierung. So konnte ab 1933 aus dem besonders oestronhaltigen Harn von Stutenurin sehr preiswert Progynon mit dem neuen Inhaltsstoff Östradiol hergestellt werden.

"In einem Vademecum für Ärzte aus dem Jahr 1933 wies die Schering-Kahlbaum AG auf einem Extrablatt auf die Verbilligung von PROGYNON hin, das seit der Anwendung der von Butenandt entwickelten Synthese einfacher herzustellen war als das PROGYNON nach dem Steinachschen Verfahren" (Gert J. Wlasich, Die Schering AG in der Zeit des Nationalsozialismus, Verlag Kalwang & Eis 2011 S.159).

Progynon, ursprünglich ein Gemisch verschiedener weiblicher Hormone, war also ab 1933 ein chemisch reines, halbsynthetisches Hormon.

Exponat:

Sechseckiges Fläschchen der amerikanischen Vertretung der Fa. Schering mit 30 Tabletten PROGYNON, jede 30 Allen-Doysy-Einheiten Oestrogen enthaltend. Import aus Milford, Pennsylvania / USA. ("Free Sample": Ärztemuster). Schraubverschluß aus Weissblech, blaues Etikett.

 

Lit.:

Batisweiler, J., Plazentaextrakt Progynon bei Menstruationsstörungen und Kastrationsfolgen, in: Zbl. Gynaek. 1928, 2227-2232.

Novak und Last, Klinische Erfahrungen mit Progynon usw., in: Med. Klin. 1928 II, 1715.

Butenandt, Adolf, Über „Progynon", ein krystallisiertes weibliches Sexualhormon, in: Die Naturwissenschaften, November 1929 Volume 17, Nr. 45, S. 879-879. Springerverlag