Chirurgie


Haarseilnadel

Haarseilnadel
 

 

Schon die Alexandrinische Schule bediente sich einer zinnern, mit einem Oehr versehene Sonde um Ligaturen einzuziehen.

 

Eiterband, Haarschnur (lat. setaceum). Die französische Bezeichnung "séton" kommt vom lateinischen "seta" für die Schweineborste. In der Tat legten die ersten Chirurgen Schweineborsten in die Wunden, um den Eiterablauf zu erleichtern. Ihre Nachfolger benutzten die längeren Pferdehaare, deren Nachfolger Baumwollfäden – schon 1370 sprach Guy de Chauliac vom céton als einer «mèche de coton passée à travers la peau pour entretenir un exutoire» (La Grande Chirurgie [trad. du lat.] d'apr. Sigurs, p. 74).

Man sagte: ein Haarseil legen, stecken oder setzen.

 

Das Haarseil war ein aus Rosshaaren gedrehetes Seil, welches durch die Haut gezogen wurde, um ein künstliches Geschwür zu erwecken; insbesondere wurde es vom 16. bis 19. Jahrhundert gegen Augenerkrankungen und gegen Epilepsie angewendet.

 

Dem Patienten wurde mit einer Haarseilzange ein Stück Nackenhaut angehoben. Es ging aber auch ohne Zange: nachdem der Chirurg die Haut in Erschlaffung versetzt hatte, bildete er eine Längenfalte, deren eines Ende er einem Gehülfen übergab, während er das andere mit der linken Hand selbst hielt.

 

Zur Technik

Nachdem er mit einem Bistouri zwischen beiden Haltehänden einen Kanal gestochen hatte, führte der Chirurg ein mit einem Oehre (Auge) versehenes Stilet, in das eine Wieke (Fäden) eingefädelt war, auf der Klinge durch die Continuitätslösung und liess die Fäden (oder die Wieke) darin zurück. Durch die beiden Hautschnitte wurde also eine Haarseilnadel mit dem Haarseil, einer Schnur aus Rosshaar, Leinwand oder ähnlichem, durchgestoßen.

Das Haarseil verblieb einige Tage unter der Haut, bis sich Eiter bildete. Diese Eiterung sollte nun zur „Ableitung böser Säfte“ aus dem Rest des Körpers beitragen. "Zu der Benennung mag wohl Veranlassung gegeben haben, daß sich die Alten zu gleichem Zweck der Pferdehaare bedienten. Der gleichsam unter einer Hautbrücke durchgezogene leinene Streifen, der höchstens einen Zoll breit sein darf, aber gegen zwei Fuß lang sein muß, wird durch einen angemessenen Verband befestigt. Ist die Eiterung eingetreten, so wird der Verband täglich einmal oder öfter erneuert und bei der jedesmaligen Erneuerung das den eiternden Wundkanal grade ausfüllende und aus diesem hervorgezogene Stück des leinenen Streifen abgeschnitten, dieser aber nachgezogen und abermals befestigt u.s.w. Je nach dem Sitze des Übels, gegen welches man das Haarseil anbringt, wählt man verschiedene Gegenden des Körpers zur Anlegung. Am häufigsten bringt man es im Nacken an, außerdem aber auch an der Brust, in der Leber-und Magengegend, am Unterleibe, an den Oberschenkeln u.s.w. Es findet in einer großen Anzahl, namentlich langwieriger, Krankheitszustände Anwendung und ist mitunter von ausgezeichneter Heilwirkung. So hat man es bei manchen Gehirnleiden empfohlen; ganz vorzüglich aber bei hartnäckigen Augen- und Ohrenentzündungen, bei Ausflüssen aus den Ohren, Lungenschwindsucht u.s.w. Häufiger noch ist seine Anwendung in der Thierheilkunst" (Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, 1. Auflage, Leipzig: F. A. Brockhaus, 1837 – 1841).

 

Indikationen  

- "Haarseil (Setaceum), eine ehemals aus Pferdehaaren verfertigte, jetzt meist baumwollene od. seidene auch leinene Schnur, od. ein Bändchen aus Leinwand, od. ein an den Seiten ausgezogener Leinwandstreif. Man braucht es, um ein künstliches Geschwür zu bewirken. Man sticht eine hinlänglich breite Nadel (Haarseilnadel), in deren Öhr das mit Digestivsalbe bestrichene H. eingebracht ist, in eine zu diesem Zweck mit dem Finger od. einer eignen Zange (Haarseilzange) aufgehobene Hautfalte, zieht dann das Haarseil durch und läßt es nun in der Wunde liegen, wo sich bald eine erhebliche Eiterung bildet, die dadurch, daß man das H. ein- bis zweimal täglich nachzieht, unterhalten wird. Ehedem galt es bei Lungen- u. Herzleiden, Schwerhörigkeit, zumal aber bei Gehirn- u. Augenleiden als heilsamstes Ableitungsmittel; jetzt ist es ziemlich außer Gebrauch, außer etwa bei Thierärzten. Außerdem diente es auch eine Geschwulst durch Eiterung zu verkleinern od. zu zerstören, auch um Kanäle wegsam zu machen u. wird dann durch diese mit der Haarseilnadel od. einem Stilet eingeführt. Bei Thieren dient als H. gewöhnlich ein mit Salbe bestrichener Riemen (Abflußriemen, Abflußschnur), damit die bösen Säfte eines kranken Theils, aus einer absichtlichen Wunde (Abflußwunde) abfließen" (Pierer's Universal-Lexikon, Altenburg, 4. Auflage 1857–1865).

- FABRICIUS Hildanus (1560-1634) berichtete über zwei Fälle von Epilepsie, wo alle übrigen Mittel versagt hatten. Er heilte sie dauernd durch Anlegen eines Haarseils im Nacken. Auch der französische Kliniker Lazarus RIVERIUS (1589-1655) berichtet in seiner "Praxis Medica" über Heilung der Epilepsie durch Haarseil und Kauterien.

- Sehr verbreitet war die Anwendung des Haarseiles bei Lungentuberkulose. Ausdrücklich wurde es bei diesem Leiden auch von den wissenschaftlich gebildeten Ärzten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts allgemein als sehr wirksam empfohlen und angewendet. Eine darauf bezügliche Schilderung findet sich noch in dem 1826 erschienenen Roman von Wilhelm Hauff "Der Mann im Mond", wo ein Lungenkranker ein an der Brust befestigtes Haarseil trägt.

"Wenn keine Haarseilnadel bei der Hand ist, so kann die Hautfalte mit einer Lanzette durchstochen und der Faden alsdann mit einer Sonde eingebracht werden (S.176). Die Franzosen wurden so sehr mit dem Gebrauche der Haarseile vertraut, daß sie ihn nicht nur auf Fleischwunden beschränkten, sondern siesogar durch den Thorax, den Unterleib und das Kniegelenk zogen" (Samuel Cooper, Neuestes Handbuch der Chirurgie in alphabetischer Ordnung, Band 3, 1821 S.546).

 

Zusammenfassung

In das Oehr wurde ein Seil eingefädelt. Dann wurde die Haut des Nackens an zwei Stellen eingeschnitten und die Nadel von der einen Hautwunde zur anderen durchgestossen. Das von der Nadel in die Wunde gezerrte Seil blieb über mehrere Tage in der Wunde liegen - es kam zu einer (gewollten) Eiterung, die eine andere (unerwünschte) Eiterung (in Auge, Ohr oder Gehirn) "nach aussen ablenkte" - eine geläufige Behandlung im 16. bis 19. Jahrhundert! 

 

Exponat

Trousse des französischen Fabrikanten Mathieu, darauf eine 14 cm lange Nadel-Sonde mit besonders großem Oehr. "Die Nadel-Sonde oder Oehr-Sonde hat an ihrem dickeren Ende ein längliches Oehr, vermittelst welches Haarseile oder Faden durch Wunden oder Fisteln gezogen werden" (Julius Leo, Instrumentarium chirurgicum, Berlin 1824 S.3).

Hersteller: Louis Mathieu ( 1817-1879)

 

Lit.:

Louis Shepard de Forest, Das ableitende Verfahren mittels Fontanelle oder Haarseil bei Erkrankungen des Central-Nervensystems. Inaugural-Dissertation, Verlag A. Neuenhahn, 1885.