Chirurgie


Anatomisches Modell (1), AUZOUX

 

 

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine Industrie für den wachsenden medizinischen Lehrmittelbedarf. Anatomische Wachsmodelle waren empfindlich; deshalb experimentierten die Anatomen mit andern Materialien.

 

Der französische Chirurg Jean François AMELINE (1763-1835), ab 1808 Professor der Anatomie in seiner Geburtsstadt Caen,war der erste, der artikulierte Modelle aus Papier-Knetmasse herstellte. Auch sein Landsmann Louis Thomas Jérôme AUZOUX (1797-1880), der 1818 sein Medizinstudium begann, war abgeschreckt von den Formalin-Leichen, die man ihm zur Dissektion vorlegte. Er widmete sich daher der Entwicklung einer geruchlosen Technik des Modellierens, und erfand die sog. „anatomie clastique“ [vom griechischen clastos, gebrochen, zerlegt – da seine Modelle in Einzelteile zerlegt werden konnten]. Angeregt durch Puppen aus „papier mâché“ (ital. carta pesta), die damals in den Strassen von Paris feilgeboten wurden, entwickelte er eine Modelliermasse, die zunächst weich und verformbar war, dann aber zu einer resistenten Masse erstarrte. Er benutzte anfänglich die bei der Fabrikation von Haushaltswaren damals gängigen Giessformen aus Gips, entwickelte aber später resistentere Formen aus Blei In ihnen goss er die Teile, bevor er sie mittels Drahtfäden zu grösseren, inwendig hohlen, Ensembles zusammenfügte, die schliesslich mit Deckpapier geglättet und lackiert sowie mit feinen Nervengeflechten aus Seide [und Nummernschildern] ergänzt wurden. Die erstarrte Paste konnte angefärbt werden, und gestattete das Modellieren der Weichteile mit erstaunlicher Naturtreue. Schon 1822 legte er der Académie de médecine in Paris ein Modell vor, bestehend aus Originalknochen, die mit einer von ihm entwickelten Paste zusammengehalten wurden. Eine Ermutigung der Akademie 1824 und ein öffentlicher Auftrag des Innenministeriums bestimmten daraufhin seine weitere Karriere, indem er sich von nun an ganz dem Modellieren widmete. 1825 stellte er ein Modell aus 139 Teilen vor. Der Erfolg ließ ihn eine Fabrik für Lehrmodelle von Mensch und Tier gründen: 1827 gründete er in seinem Geburtsort Saint-Aubin-d’Ecrosville eine Fabrik mit 50 Arbeitern, die Modelle am Fliessband herstellten, im Volksmund „bonhommes d’Auzoux“ genannt. Die Arbeiter wurden hochbezahlt, die Begabtesten wurden von AUZOUX mehrfach dazu bewegt, ein Medizinstudium anzugehen… Nach 5jähriger Vorarbeit präsentierte die Firma 1830 ein lebensgrosses Modell „Le Grand Ecorché“, bestehend aus 129 (130) Teilen, auf dem an die 1500 Details vermerkt waren – unbezahlbar! Ab 1845 stellte man daher ein preiswerteres 2:1 Ganzkörpermodell her, daneben Modelle des Auges, des Innenohrs, des Gehirns. Zu seinen Abnehmern gehörten Universitäten, Königshäuser – sogar der Vatikan bestellte ein Ganzkörpermodell für seine Sammlungen.

 

Im Vergleich zu anatomischen Wachsmodellen, sind die Pappmaché-Artefakte leichter herstellbar, kostengünstig und robuster. Zudem lassen sich einzelne Sektionen der Modelle bewegen, was die Öffnung von realen Körpern ersetzt und so den Anatomie-Unterricht erleichtert. AUZOUX starb hochangesehen in Paris, eine Büste und ein 1995 eröffnetes „Musée de l’Ecorché d’Anatomie“ in Le Neubourg in der Normandie erinnern an sein Werk. Zahlreiche internationale Sammlungen enthalten Modelle von seiner Hand. Die AUZOUX’sche Fabrik belieferte in der Tat während mehr als 150 Jahren tausende von Schulen im In- und Ausland mit menschlichen, tierischen, botanischen Figuren.

 

Das hier vorgestellte Modell stammt aus der Pfaffenthaler Hebammenschule und fand sich eines Tages im Müllcontainer einer städtischen Klinik wieder. Es ist auf der Oberseite der rechten Zwerchfellkuppel signiert und datiert „Anatomie clastique du Dr. Auzoux, 1887“. 

https://www.seton.at/D95586000/Lageretiketten-aus-Papier-nummeriert.html